Auswertung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Türkei zu den Wahlergebnissen:
FALSCHER FRÜHLING
Am 31. März 2024 fanden in der Türkei die Kommunalwahlen statt. Mit einem äußerst unerwarteten Wahlergebnis hat sich das Volk einen psychologischen Vorteil gegenüber der AKP verschafft, der zweifelsohne notwendig war. Von einem wirklichen Erfolg kann aber keine Rede sein. Unmittelbar nach den Wahlen trat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Türkei zusammen und wertete die Wahlergebnisse und die Hintergründe für diese Ergebnisse aus.
Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Türkei trat unmittelbar nach den Kommunalwahlen vom 31. März zusammen, wertete die Wahlergebnisse aus und begann mit der Arbeit an der Aktualisierung der politischen und organisatorischen Agenda und Ziele der Kommunistischen Partei der Türkei.
Die Tatsache, dass das „spannendste“ Wahlergebnis der AKP-Jahre aus der „spannungslosesten“ Wahlperiode in der jüngeren Geschichte der Türkei hervorging, und dass sich diese beschränkte Begeisterung in der Wahlbeteiligung widerspiegelte, verdient mehr als genug Beachtung.
Die Lebenshaltungskosten und die Verschärfung der Armut sind ab Herbst 2022 das Hauptthema eines breiten Teils der Gesellschaft in der Türkei. Das Erdbeben im Februar 2023, von dem eine sehr große Region betroffen war, stellte die AKP-Regierung moralisch und gewissenhaft in Frage, versetzte der Glaubwürdigkeit und dem Ansehen der Regierung einen Schlag und verschärfte auf direkte und indirekte Weise die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Werktätigen.
In diesem Sinne trat die AKP zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 unter mindestens ebenso schwierigen Bedingungen an wie heute. Was die Regierung im vergangenen Jahr rettete, war vor allem die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Bedingungen und das Erdbeben in weiten Teilen der Gesellschaft die Suche nach Stabilität und einer starken Regierung auslösten. Dementsprechend zogen es fast alle Kapitalkreise und internationalen Akteure mit unterschiedlichen Anliegen vor, ihren Weg mit Erdoğan fortzusetzen. Die Fähigkeit von Erdoğan, dessen gesellschaftlicher Rückhalt stets größer war als der seiner Partei, die Wahlen des letzten Jahres zu personalisieren, sollte ebenso nicht vergessen werden.
Bei den Wahlen 2023 war ein weiterer Faktor, der die AKP zum Erfolg führte, das Glaubwürdigkeitsproblem der Opposition, des so genannten Sechser-Tisches(1). Die werktätigen Massen, die mit den Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben, sahen in der Opposition weder Einigkeit noch Lösungen, und sie sahen „den Sturz des Ein-Mann-Regimes und die Einführung eines gestärkten parlamentarischen Systems“ nicht als Heilmittel für ihre dringenden Probleme.
Die Kommunalwahlen 2024 fielen in eine Zeit, in der man davon ausging, dass die AKP-Regierung noch eine Weile fortbestehen würde. In diesem Sinne hat der Stabilitätsdruck auf die Gesellschaft nachgelassen, aber der Ärger über die Lebenshaltungskosten und das Gefühl der Unsicherheit haben sich verstärkt. Seit den Wahlen 2019 begann das Image einer starken Führungsperson, das in der Person von Ekrem İmamoğlu systematisch aufpoliert wurde, das durch den schwindenden Einfluss von Erdoğan entstandene Vakuum auszufüllen. In diesem Prozess sind die Interventionen des TÜSİAD-Kapitals(2) von entscheidender Bedeutung. Dass Imamoğlu nicht nur in der CHP, sondern in allen politischen Parteien an Gewicht gewonnen hat und über ein breites Mediennetzwerk verfügt, ist das Ergebnis der Entschlossenheit der Kapitalklasse, nicht einer persönlichen Fähigkeit.
Mit dieser Entschlossenheit wurde mit den Präferenzen der Sekten gespielt, der Weg für Formationen geebnet, die an die Tradition der Nationalen Sicht(3) appellierten, und vor allem wurden neue Beiträge zu den Debatten innerhalb der AKP geleistet. Es war teilweise das Nebati-Finanzprogramm(4), das von liberalen Wirtschaftsexperten als Produkt eines ignoranten Populismus angesehen wurde, das der AKP die Wahlen 2023 bescherte. Es war offensichtlich, dass die Politik von Mehmet Şimşek(5), die von denselben oppositionellen Liberalen gelobt wurde, den Rentnern und den unter der hohen Inflation Leidenden den Atem rauben würde. Die großen Monopole, die mit den verheerenden Schritten der AKP in den Bereichen Wirtschaft und Außenpolitik mehr als zufrieden waren, indem sie den US-orientierten und liberaleren Teil der AKP unter Druck setzten, hatten jedoch keine Schwierigkeiten, das gewünschte Ergebnis zu erzielen, indem sie den Flügel innerhalb der Regierung und der staatlichen Bürokratie unterdrückten, der „national und einheimisch“ war, soweit es die Ordnung zuließ.
In diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass das Trio Ekrem İmamoğlu-Özgür Özel-Mansur Yavaş seine konstruktive und tolerante Haltung gegenüber der Regierung auch nach den Wahlen fortsetzen wird, eine große Sicherheit sowohl für die AKP als auch für Kreise des Kapitals. Dieses Trio hat weder etwas gegen eine Außenpolitik, die sich stärker an den USA orientiert, noch gegen eine volksfeindliche Wirtschaftspolitik einzuwenden. In dieser Frage wurden bereits gegenseitige Zusicherungen gegeben und ein Kompromiss erzielt.
Wir sind mit einem anderen Bild konfrontiert, das den positiven Effekt des Stimmenrückgangs der AKP zunichte machen wird. Es wäre naiv, angesichts der Wahlergebnisse sich darüber zu freuen, dass „das Palastregime zurückgedrängt wurde“.
Die große Unzufriedenheit, die im Gezi-Widerstand ihren Höhepunkt erreichte, wurde zehn Jahre später an İmamoğlu, die Kavallerie von Koç(6), und an ein „MHP“-Mitglied(7). übergeben, das die republikanische Mehrheit der Hauptstadt vollständig an sich gebunden hat. Außerdem ist das Versprechen “ zum parlamentarischen System zurückzukehren“, das vor einem Jahr in jedem Satz vorkamen, längst durch die Balkonreden der neuen Präsidentschaftskandidaten ersetzt worden, die beabsichtigen, das Präsidialsystem voll und ganz auszuschöpfen.
Das ist genau das, was wir gesagt haben: „Die Ära, in der die Führungspersönlichkeiten und nicht die Parteien in den Vordergrund treten werden, beginnt“.
Die Türkei der AKP und die Türkei der AKP-Gegner sind miteinander vermischt, und die Sekten und Großunternehmen bilden den Mörtel dieser Gesamtheit.
Die Kommunistische Partei der Türkei hat von Anfang an auf diese Operation hingewiesen, sich ihr widersetzt und sie bekämpft. Wir werden unseren Weg in dieser Richtung fortsetzen und werden nicht wie andere ein Handlanger dieses oder jenes Akteurs sein.
Die TKP, die bei den Wahlen 2023 mit ihrem Stimmenanteil weit unter ihrem politischen Einfluss lag, verdoppelte ihre Stimmenzahl bei den Kommunalwahlen 2024 und erhielt bei den Gemeinderatswahlen 127.000 Stimmen. Auch diese Zahl liegt weit unter dem politischen und organisatorischen Einfluss der Partei. Im Bezirk Defne in Hatay, einer der am stärksten durch das Erdbeben zerstörten Siedlungen, trat die TKP dagegen mit dem Anspruch an, die Stadt wiederzubeleben, ohne ein Bündnis einzugehen, und obwohl sie über 39 % der Stimmen erhielt, verlor sie das Bürgermeisteramt knapp. Darüber hinaus erhielt die TKP in 32 Bezirken und vielen Städten, von denen einige in den konservativsten Gebieten der Türkei liegen, Stimmen über der 1-Prozent-Hürde. Unsere Partei errang zehn Sitze in Gemeinderäten und einen Sitz in der Provinz-Generalversammlung. Der größte Erfolg der Partei während der Wahlperiode waren natürlich die neuen Standorte, die sie gegründet hat, und die große Zahl neuer Freiwilliger, die der Partei beigetreten sind.
Bei den Wahlen in Kadıköy, an denen die Öffentlichkeit großes Interesse zeigte, hat unsere Partei ein Ergebnis erzielt, das weit unter den Erwartungen lag. Bekanntlich war Herr Maçoğlu(8) der Kandidat der TKP für das Amt des Bürgermeisters von Kadıköy im Namen der Volkssolidarität Kadıköy. Die Tatsache, dass sich das große Interesse, das sich in der breit angelegten und mit großer Hingabe geleisteten Arbeit während der gesamten Wahlperiode zeigte, nicht an den Wahlurnen widerspiegelte, hängt zwar mit dem Bild zusammen, das sich in der gesamten Türkei ergab, ist aber im Wesentlichen auf die politischen Lücken zurückzuführen, die wir hinterlassen haben. Wir werden diese mit unseren Freunden im Detail auswerten.
Wahlergebnisse können niemals das einzige oder gar entscheidende Kriterium für eine politische und organisatorische Bewertung der TKP sein. Während die TKP ihren Weg im Einklang mit ihren Prinzipien, ihrem Programm und ihren Zielen fortsetzt, eröffnet sie keine separate Rubrik „Wahlen“, sondern macht die Wahlen zu einem Element ihres eigenen Kampfes. In diesem Sinne werden wir keinen Millimeter von unserem Kampf gegen den Imperialismus, die multinationalen Monopole, das Großkapital und die Sekten in der Türkei abrücken. Wir zögern jedoch nicht, mutig die Gründe zu diskutieren und zu bewerten, warum sich der politische Einfluss der Partei nicht in den Wahlergebnissen widerspiegelt. In diesem Sinne ist es, wie wir unmittelbar nach den Wahlen von 2023 erklärt haben, für die TKP eine absolute Notwendigkeit, ihren Prozess der Verbreitung und Lokalisierung gleichzeitig in einen Prozess der Vertiefung zu verwandeln. Es ist für eine Partei der Arbeiterklasse ohnehin unmöglich, ihre revolutionäre Mission auf eine andere Weise zu verwirklichen. In diesem Sinne sollten unsere Freunde sicher sein, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.
Die TKP ist stets bei der Arbeit. Wir werden dieses Land nicht den Imperialisten, Ausbeutern und Sekten überlassen.
Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Türkei
(1) Oppositionsbündnis, auch Bündnis der Nation genannt, zusammengesetzt aus CHP, IYI-Partei, DEVA-Partei, Gelecek-Partei, Saadet-Partei, Demokrat-Partei)
(2) TÜSIAD: kurz für Türk Sanayicileri ve İşadamları Derneği, ist eine Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute. Der Verein mit Sitz in Istanbul ist einer der wichtigsten Unternehmerverbände in der Türkei und wurde 1971 gegründet
(3) Millî Görüş, vereinzelt Milli Görüsch geschrieben (deutsch „Nationale Sicht“), ist eine länderübergreifend aktive islamistische Bewegung.
(4) Nureddin Nebati, Finanzminister der Türkei im Kabinett Erdoğan IV.
(5) Seit Juni 2023 Finanzminister der Türkei, Nachfolger von Nebati
(6) Koc-Holding, eines der größten und mächtigsten Großunternehmen der Türkei, mit Einfluss auf die Politik
(7) Gemeint ist Mansur Yavas, ehemaliges Mitglied der Nationalistisch-faschistischen Partei MHP
(8) Mehmet Fatih Macoglu, ehemaliger TKP-Bürgermeister von Dersim.