Erklärung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Türkei Kemal Okuyan
anlässlich des 103. Gründungsjubiläums der TKP:
Der 10. September ist für die TKP mehr als nur ein Gründungsdatum
Die Kommunistische Partei der Türkei, unsere Partei, wurde am 10. September 1920 gegründet. Wir sind die älteste Partei der Türkei. Ist das so, weil wir 103 Jahre alt sind? Ansonsten würden wir uns „alt“ nennen, wir würden uns „gealtert“ nennen… Nein, es ist nicht unser Alter, das uns verwurzelt macht. Wir sind die am stärksten verwurzelte Partei in der Türkei, weil wir eine Partei sind, die aus dem Prozess der Befreiung und der Gründung in diesem Land entstanden ist. Der 10. September ist eine Gründung, die ihren Mut und ihre Legitimität aus einer aufkommenden Revolution bezieht, aus den historischen Entwicklungen, die die Welt und unsere Region auf den Kopf gestellt haben. Wir berufen uns auf den 10. September 1920, aber diese Gründung geht auch auf den 7. November 1917 zurück, die Große Russische Sozialistische Oktoberrevolution; auf den März 1919, als die Kommunistische Internationale ihren Anfang nahm; auf den Kongress der Völker des Ostens in Baku, der am 31. August 1920 zusammentrat und eine Woche lang Millionen von Menschen optimistisch stimmte. Baku war ein Geburtsort der Arbeit im Kaukasus. Jahrzehntelang war die Wut der unterdrückten Ölarbeiter, die ‘neftçi’s, die von den großen Monopolen ausgebeutet wurden, die sich die reichhaltigen Ölquellen unter den Nagel gerissen hatten, auf revolutionäre Ideen gestoßen, und Baku war zur wichtigsten Stadt der Region in Bezug auf die Klassenkämpfe geworden. In Baku waren Arbeiter aller Nationen und Ethnien vertreten, die Brüderlichkeit und der Internationalismus des Proletariats gegen den Kosmopolitismus des Kapitals! In Baku hat die Partei ihre Gründung bekannt gegeben. In Baku, das die Sowjetmacht von der britisch-menschewistischen Allianz und den osmanischen Paschas, die immer noch nach Expansion strebten, befreit hatte. Die TKP hätte auch in Istanbul gegründet werden können, wo sich die Kommunisten der Unterdrückung, der Finsternis und der Besatzung widerstrebten, oder auf der Krim, wo sich Revolution und Konterrevolution einen blutigen Schlagabtausch lieferten. Das Wichtigste war Folgendes: Eine Ära ging zu Ende und eine neue brach an. Die Fronten wurden klarer, Revolution und Konterrevolution führten zu einer Konfrontation, der niemand mehr entkommen konnte. Was sollten die Kommunisten tun? Das Osmanische Reich war am Ende, erschöpft. Der Palast war ein Nest für Despoten und Kollaborateure. Besatzung und Zerfall hatten den verarmten anatolischen Bauern das Genick gebrochen, die bereits durch Hunger, Armut, Seuchen und Krieg leidgeprüft waren. Der große Krieg, den die Imperialisten führten, um die Welt neu aufzuteilen, und in dem sich die Völker gegenseitig an die Gurgel gingen, führte hingegen zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Soldaten, die zumeist Arbeiter und Bauern waren, revoltierten gegen ihre eigenen Regierungen, und in Russland, das in dieser Sache die Führung übernahm, ergriffen die Arbeiter die Macht. Das Gleiche geschah beinahe auch in Deutschland. Das deutsche Kaiserreich, das im Krieg unterlegen war, machte der Republik Platz. Die Republik wurde in Deutschland mit den Waffen revolutionärer Matrosen und mit der Macht proletarischer Milizionäre in roten Halsbändern errichtet. Es war die verräterische deutsche Sozialdemokratie, die verhinderte, dass sie sich zu einer sozialistische Republik etablierte. Finnland, Ungarn, die Slowakei… Überall wehte der Wind der Revolution, überall… Einerseits versuchten die sieghaften imperialistischen Staaten, ihre Errungenschaften unter sich aufzuteilen, andererseits ging es ihnen darum, den Aufstand der Roten, des Pöbels, der Unterdrückten, der großen Menschheit, der Unruhestifter, die ihre Macht erschütterten, niederzuschlagen. Die psychologische Überlegenheit lag an der revolutionären Front. Sowjetrussland streckte den Arbeitern und unterdrückten Völkern der Welt eine starke Hand entgegen. Diese saubere, ehrliche und aufrichtige Hand war ein Retter für die verarmten Massen, die jahrelang die blutige und schmutzige Hand der imperialistischen Barbarei an ihrer Kehle gespürt hatten. Der Widerstand in Anatolien entstand unter diesen Bedingungen. Die Türkei verfügte nicht über eine starke Tradition demokratischer Massenbewegungen. Im Osmanischen Reich nutzten die bürgerlichen Revolutionäre die durch die Unzufriedenheit der armen Bevölkerung hervorgerufenen Reaktionen und forcierten die Umgestaltung. Intellektuelle, Paschas… Natürlich gab es eine Volksreaktion gegen die imperialistische Besatzung. Aber sie war schwach und lokal begrenzt. Anatolien wartete auf jemanden. Mustafa Kemal war einer derjenigen, die in den Vordergrund traten.
In kurzer Zeit zeichnete er sich durch seinen Realismus, seinen Mut in grundsätzlichen Fragen und seine Perspektive für die Möglichkeiten und die Begeisterung, die von Sowjetrussland ausgingen, gegenüber den anderen aus. Die Besetzung und der Zerfall des Osmanischen Reiches hatten der bürgerlichen Revolution in der Türkei neue Energie verliehen. Hatte die türkische Arbeiterklasse genug Erfahrung und Kraft, um weiter zu gehen? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aber wenn man bedenkt, dass Saloniki, die am besten organisierte Stadt des „alten“ Osmanischen Reiches, in Griechenland lag und Istanbul und Izmir besetzt waren; wenn man bedenkt, dass sozialistisches Gedankengut nicht verwurzelt war und in unzureichender und oft unzusammenhängender Form existierte… Es war schwierig, sehr schwierig. Aber selbst in dieser Situation war der Widerstand in Anatolien sehr, sehr wertvoll. Zunächst einmal stellte sich der Nationale Kampf in die Reihen der internationalen revolutionären Front. Er hat die Pläne des Imperialismus durchkreuzt und viele Nationen inspiriert. Außerdem können die Grenzen eines jeden Kampfes nicht vorherbestimmt werden, manche Prozesse können sich weit über den Punkt hinaus entwickeln und verändern, an dem sie begonnen haben. Im Jahr 1919 konnte niemand den Ausgang des Kampfes in Anatolien voraussagen. Es fand ein Kampf statt, ein Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution, aber jede Front hatte ihre eigene innere Dynamik am Werk. Und selbst in diesem Zustand sprechen wir von einem revolutionären, progressiven Prozess, einer Revolution. Die Kommunistische Partei der Türkei musste gegründet werden! Denn die Kommunistische Partei der Türkei hatte bereits in Anatolien Partei ergriffen. Die Kommunistische Partei der Türkei war gegen die Invasoren, gegen den kollaborierenden verrotteten Palast, war auf der Seite der Revolution, war auf der Seite des Widerstandes. Was auch immer notwendig war, damit diese Revolution, dieser Widerstand mehr erreichen konnte, damit die Arbeiter:innen gestärkt in die nächste Phase gehen konnten, musste getan werden. Die Kommunistische Partei der Türkei war ein historischer Anspruch, sie würde ohnehin gegründet werden. Aber die Kommunistische Partei der Türkei war auch der Zeitgeist, in diesem Sinne ist ihre Gründung zeitgemäß. Die Tatsache, dass unsere Gründungskader, allen voran Mustafa Suphi, sich sofort nach Anatolien begeben wollten, entsprach ebenfalls dem Geist der damaligen Zeit, es war zeitgemäß. Sie haben die Macht des Antikommunismus unterschätzt, haben sich verrechnet, haben die Warnungen nicht beachtet, haben sich in den Tod gestürzt… Lassen wir das alles beiseite… Wir Kommunisten verteidigen das Leben, nicht den Tod. Aber manchmal schreibt der Tod die Geschichte der Menschheit. Sobald die TKP gegründet wurde, hat sie entschlossen gehandelt, um im Kampf in Anatolien Stellung zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Hätte die TKP dies nicht getan und den Widerstand, die Befreiung und die Gründung von außen beobachtet, hätte der 10. September 1920 seine Bedeutung verloren und wäre symbolisch geblieben. Und wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten wir Schwierigkeiten gehabt zu sagen: „Unsere Partei gehört zu unserem Land“, als wir Anfang der 2000er Jahre den Namen TKP, der von der türkischen Kapitalistenklasse verboten worden war, in den Bereich der legalen Politik zurückbrachten und ihn der Arbeiterklasse der Türkei überreichten. Unsere Stimme wäre nicht so laut gewesen. Mit der Kraft, die wir zum Teil aus unserer Gründungsdynamik schöpften, haben wir in zwanzig Jahren den Vorwurf, „Wurzeln im Ausland“ zu haben, weitgehend entkräftet. Die „Zugehörigkeit zu diesem Land“ war eines der Prinzipien unserer Partei, unserer Bewegung, die unsere Partei ins Leben gerufen, bestimmt und in den Vordergrund gestellt hat. Den Interessen anderer Länder zu dienen, was auch immer das sein mag, ist für uns ein Verbrechen, das wir nicht akzeptieren können. Unsere Ansprechpartner für revolutionäre Solidarität in der ganzen Welt sind die werktätigen Völker der Welt und die Revolutionäre und Kommunisten anderer Länder. Sich bei anderen Staaten über unser Land zu beschweren, sie um Hilfe zu bitten, kann für uns nur eine Quelle der Schande sein.
Wir wollen unser Land vom Kapitalismus und all seinem Übel befreien. Wir wollen dieses System zerstören, weil wir unser Land sehr lieben. Andersherum gesagt, wir lieben dieses Land sehr, weil wir dieses System stürzen und ein neues Land aufbauen werden. Wir alle wissen, dass der Kommunismus, den wir als eine von Klassen und Ausbeutung befreite Gesellschaftsordnung definieren, auch eine Welt ohne Grenzen bedeutet. Der Kommunismus ist ein System, in dem alle frei und brüderlich leben, in dem Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit und Kriege vollständig beseitigt sind. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, oder genauer gesagt, eine schwierige Periode des Kampfes liegt vor uns, damit die Menschheit diesen Punkt erreichen kann. Das Gute daran ist, dass die Türkei diesen Weg vielen anderen Ländern der Welt vorweg einschlagen wird. Ja, so glauben wir. Es wird Zeit brauchen, bis die Menschheit die Ausbeuterklassen, den Kapitalismus, der Ungleichheit auf nationaler und internationaler Ebene produziert, und die imperialistische Barbarei vollständig überwunden hat. Wir können diese Zeit heute weder voraussagen noch messen. Was wir wissen und berechnen können, ist, dass die Türkei ein Land ist, das sich von dem imperialistischen Weltsystem lösen kann. Dies ist eine politische Behauptung, aber es ist eine politische Behauptung mit einer wissenschaftlichen Grundlage. Der Sozialismus in der Türkei, vielleicht zusammen mit anderen Ländern, die sich auf einem ähnlichen Weg befinden, wird beginnen, sich in einem Umfeld zu etablieren, in dem der Imperialismus weiter existiert und aggressiver wird, weil er sich seinem Ende nähert. Eine sozialistische Türkei wird sich gut auf den Weg zum Kommunismus einfügen. Für uns ist das Datum 10. September 1920 viel mehr als ein Jahrestag, weil wir diesen Ansatz verfolgen. Wir sind eine ehrenwerte Partei, die sich gleich nach ihrer Gründung ins Feuer gestürzt hat. Eine Partei, die sich den Patriotismus der Arbeiterklasse zu eigen macht, eine revolutionäre Partei, die ihren Anspruch auf den Sozialismus und ihre Entschlossenheit, den Sozialismus aufzubauen, nicht aufgibt… Mit diesem Anspruch und dieser Entschlossenheit feiern wir unser 103-jähriges Bestehen.