Der wirtschaftlich-politische Kontext,
indem sich diese Geschichte abspielt
Die Türkei hat die Grenzen des schnellen und künstlichen Wirtschaftswachstums der 2000er und 2010er Jahre erreicht. Dieses Wachstum basierte auf der Privatisierung profitabler öffentlicher Unternehmen, heißen Geldzuflüssen, der Zusammenarbeit mit den Golfstaaten, der Unterstützung durch die Europäische Union und so weiter. Jedoch begann die Wirtschaft des Landes ab 2013-4 zu sinken. Das Land durchläuft eine sehr harte Wirtschaftskrise, die sich in einer enormen Auslandsverschuldung in Fremdwährungen, Instabilität, einem Rückgang der Produktionskapazität und negativen Reserven in der Staatskasse manifestiert. Die Auswirkungen dieser Krise wurden verdoppelt, als sich die Pandemie im Jahr 2020 einstellte. Die Arbeitslosigkeit hat entgegen den manipulierten offiziellen Zahlen die 25 %-Marke überschritten, was einem von drei Menschen unter 35 Jahren entspricht (von denen einige ihr ganzes Leben unter der AKP-Herrschaft verbracht haben). Tiefe Ungerechtigkeiten, Ungleichheit in der Einkommensverteilung, Abnahme der Kaufkraft, Abwertung der türkischen Lira gehören ebenfalls zu den chronischen Problemen, die eine große Frustration und Wut in der Gesellschaft erzeugen und die öffentliche Unterstützung für die AKP untergraben.
Das Scheitern der neo-osmanischen Politik und das Misstrauen gegenüber Erdoğan bei den Völkern des Nahen Ostens insbesondere nach dem sogenannten Arabischen Frühling untergräbt auch seine Macht. Die Regierung versucht, diese negative Haltung von sich abzulenken, indem sie zu noch größeren reaktionären Maßnahmen, zu einem nationalistisch-provokativen Diskurs und solchen Aktionen greift. Der wirtschaftliche Zusammenbruch wie auch die politische Krise haben jedoch die Regierungsmacht der AKP ernsthaft geschwächt und eine sehr fragile Situation geschaffen. Diese Fragilität wird von der AKP zusammen mit ihrem Bündnis mit der faschistischen MHP seit 2018 in Frage gestellt, was allerdings zu einer Abhängigkeit von dem kleineren Partner führt. Auf der anderen Seite hat die Opposition unter Führung der sozialdemokratischen CHP ihr Bündnis mit der ultranationalistischen Gute Partei (İYİP) gestärkt, die zunehmend die rechten Wähler vertritt, die der AKP hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen entfremdet sind.
Zwei ehemalige Minister der Erdoğan-Regierungen, die türkische politische Kreise repräsentieren, die eine willfährigere Politik gegenüber dem westlichen Imperialismus befürworten, haben sich der Opposition angeschlossen und begonnen, die Reaktion gegen die persönliche Herrschaft von Erdoğan zu äußern, während sie die Wiederherstellung der AKP auf ihre „Werksvorgaben“ verteidigen, was die Zeit bis 2013 und insbesondere bis zur Einrichtung des Präsidialsystems impliziert. Alle diese politischen Akteure suchen jedoch die Gelegenheit, die Oberhand zu gewinnen, indem sie die Schwachstellen des anderen ausnutzen.
Wir sollten zu diesem Bild hinzufügen, dass die Regierung eines der schlimmsten Beispiele für das Missmanagement der Pandemie demonstriert und irrationale Maßnahmen umgesetzt hat, die einzig und allein darauf abzielen, die Kapitalistenklasse zu retten.
Darüber hinaus kamen Sedat Pekers Video-Aussagen in einer Zeit, in der die Rivalität zwischen den verschiedenen Flügeln der İslamisch-naitonalistischen Allianz, einschließlich ihrer Medienorgane, Bürokraten und Apparate, sich aufheizte und den Boden der AKP erschütterte. Wir können interpretieren, dass, wenn die Kontrollfähigkeit von Erdoğan nicht in diesem Ausmaß geschwächt wäre, Sedat Peker wahrscheinlich nicht erscheinen würde, um diese Gegenaussagen zu machen. Die enorme Unterstützung, die die AKP der Kapitalistenklasse in der Türkei weiterhin gibt, ist jedoch der Grund, warum diese Partei immer noch an der Macht bleiben kann. Durch den Missbrauch der Pandemiebedingungen wurden massive Anreize für die Unternehmer geschaffen, was einen Transfer von Ressourcen von der Arbeiterklasse zu den Kapitalisten darstellt. Selbst bürgerliche Institutionen wie der IWF haben festgestellt, dass die Türkei eines der Länder war, das seine Bevölkerung in dieser Zeit am wenigsten unterstützt hat. Der Verzicht auf öffentliche Ausgaben, um den wirtschaftlichen Druck auf dem Volk zu lindern, führte sogar dazu, dass die Türkei zu den drei Ländern gehört, die im Jahr 2020 ein Wirtschaftswachstum erreichten.
Erdoğan versucht nun, das Verhältnis zum Euro-Atlantischen-Pakt, das durch Anlässe wie die Flüchtlingskrise, die Konkurrenz um die ostmediterranen Energieressourcen, die Neuverteilung der Macht in Libyen und Syrien etc. beschädigt wurde, wieder aufzuwärmen und mit Biden, Israel und EU-Offizieren zu verhandeln. All dies ist der Grund, warum Erdoğans Regierung trotz all ihrer Unberechenbarkeit und fundamentalistischen Haltungen immer noch vom heimischen und internationalen Kapital bevorzugt wird.