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Über das Verhalten der Wähler: innen aus der Türkei in Deutschland:
„Kurios“ und „Inkonsistent“

Beim zappen zwischen zwei oppositionellen Fernsehsendern, wobei ich mit großem Interesse die Ergebnisse in der ersten Runde der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei(*) verfolgte, stieß ich auf ein Interview mit einem linken Journalisten, Autor und Fernsehmoderator, der auch der Gründer von einem der genannten Sender war. Just in dem Moment fingen sie an, über die Wahlergebnisse im Ausland zu sprechen und sie zu kommentieren. Es zeichnete sich klar und deutlich, dass Erdogan und die AKP im Ausland im Vergleich zum Durchschnitt in der Türkei erheblich mehr Stimmen bekamen. Die Differenz in Deutschland war größer als in allen anderen europäischen Ländern.

Das unten wortwörtlich zitierte Kommentar des Journalisten, dessen Programme ich meistens schätze, machte mich nachdenklich:

„Dort (in Deutschland) haben der Migrant: innen und Arbeiter: innen aus der Türkei ein kurioses verhalten. Ein erheblicher Teil derjenigen, die dort alle Möglichkeiten der Demokratie genießen und sozialdemokratische Parteien wählen… ich meine diejenigen linken und sozialdemokratischen Parteien, die gegen die Ausländerfeindlichkeit sind, wählen, kommen in die Türkei und geben ihre Stimme genau an das Gegenteil ab. Sie wählen konservative Parteien. Wir stehen vor einer sehr diskutablen Wählerverhalten aus dem Gesichtspunkt der Wählermoral und des Benehmens. Hier ist eine politische Inkonsistenz. Und die Deutschen staunen darüber.“

Der Kommentator fügte hinzu, dass er dies nicht überbewerten wolle. Was für ihn wichtig sei, „wäre die Auswirkung dieses Ergebnisses bei den Wahlen insgesamt“ sagte er. (TELE 1, am Abend des 14.05.2023, „Sendung über die aktuellen Wahlergebnisse“; Fettschriften sind von mir.)

Ja, er wollte dies nicht überbewerten, aber für mich war es genau der Punkt. Ich fand diese Aussage aus zweierlei Gründen sehr wichtig und sagte mir, dass sie nicht unbeantwortet bleiben durfte.

Erstens, wurde hier der allgemeine Irrtum von vielen Linken in der Türkei noch einmal aus dem Mund „einer wichtigen, renommierten Linken“ bestätigt. So wurde ich noch einmal Zeuge, wie „die Möglichkeiten der Demokratie“ in Deutschland bis zur Grenze der Bewunderung aufgebauscht wurde. Woher sollten sie auch wissen… dass im Rahmen der „Möglichkeiten der Demokratie“ alle linken Personen von den Geheimdiensten des Staates Schritt für Schritt aufgespürt, beobachtet und auch verfolgt und registriert werden. Woher, dass die E-Mail-Korrespondenz der Abgeordneten der Linken Partei zum Beispiel archiviert wird… woher, dass manche Institutionen des Staates die faschistischen Organisationen nicht nur übersehen, sondern mit denen in Verbindung stehen und sie in irgendeiner Art und Weise unterstützen… (ab und zu hören wir, dass dies auch für Sympathisanten der Faschisten bei der Polizei und dem Bundeswehr gilt.)… Dass inoffiziell und nicht deklarierte Berufsverbote für Kommunisten immer noch gelten… Und so weiter und sofort. Es gibt etliche Beispiele, aber dies ist nicht unser Hauptthema.

Lasst mich nun eine Anmerkung machen und fortfahren: Dass die Personen, die sich nur wenige Tage zu Besuch hier aufhalten, die Mysterien dieses Systems detailliert durchblicken, dies darf selbstverständlich nicht erwartet werden. Jedoch können wir von den Menschen, die beanspruchen Linke zu sein und von sich behaupten, dass sie die Prozesse in ihrem Land aus dem Gesichtspunkt der Arbeiterklasse beobachten, folgendes erwarten: Eben diesen Gesichtspunkt gerade in den Ländern, in denen die Erfinder, Entwickler und unvergleichlich Erfahrenere dieses Ausbeutungssystems an der Macht sind, nicht aus den Augen zu verlieren.

Unser aktuelles Thema war die „Doppelmoral“ und „Inkonsistent“ der aus der Türkei stammenden Wähler: innen, die man ohne über zu bewerten, nur kurz erwähnt hatte. Dies bedarf unbedingt einer Klärung.

In der Türkei, in der Erdbeben-Region, wo viele Städte, Kleinstädte und Dörfer durch zwei Erdbeben in Schutt und Asche gelegt wurden, wo die Regierung die Erdbebenopfer innerhalb der ersten zwei-drei Tage lang allein ließ und dadurch abertausende zum Tode kamen, waren die Erdogan- und AKP-Wähler: innen in der Mehrheit. Sollen wir diese Menschen, die ihre Mörder gewählt haben, als doppelmoralisch oder inkonsistent abstempeln? Nein! Wir sprechen von ihrer Abriegelung durch die Medien, wir sprechen vom Entzug all ihrer Möglichkeiten, die Wahrheit zu erfahren. Wir sagen, dass sie in Not zu den Händen der Sekten geraten sind, dass sie in ihrer Armut ein Opfer der Almosengesellschaft geworden sind. Kurz gesagt, wir reden hier von „betrogenen Menschen“.

Und die in Europa?
Als wir, die ganze Familie zum Generalkonsulat gingen, um unsere Stimmen abzugeben, begegneten wir einer äußerst interessanten Szene. Typen, die wir normalerweise nicht auf der Straße begegnen: Männer in Gebetsmänteln, Pumphosen und Kappen, Frauen mit typischen Kopfbedeckungen in diversen Farben, nach ihren Sekten sortiert, gar in Burkas, sich mit Sonnenbrillen und Handschuhen vor den fremden Augen versteckend… Manche kamen offensichtlich in Gruppen mit Bussen. Sie waren so viele und warteten geduldig in der langen Warteschlange, die am Ende der Straße weit um die Kurve reichte.

Das Bild war für fremde Augen erschreckend. Jeder (dieser) Wirklichkeitsfremde würde sicherlich sich Fragen, aus welchem Loch -um Himmelswillen- diese Gestalten rausgekrochen sind!

Lass mich jetzt diesen Wirklichkeitsfremden erklären, dass dies gar nicht so erstaunlich ist:

Diese Massen wurden sowohl durch die staatlichen Institutionen der Republik Türkei inklusive aller systemtreuen politischen Parteien ohne Ausnahme, wie auch vom Bund und Länder in Deutschland gemeinsam gesät, begossen, aufgezogen!

Mit den aus der Türkei gesendeten Imams und Moschee-Hodschas… mit speziell ausgewählten konservativen, sogar offen-reaktionären Schullehrern… mit Mitgliedern der faschistischen Partei MHP und Grauen Wölfe… mit in Deutschland erscheinenden zwei Tageszeitungen… und mit Taschen voller Gelder. Mit allen Mitteln belagerten Sie die damaligen „Gastarbeiter: innen“ ideologisch, politisch, organisatorisch. Es wurde klammheimlich veranlasst, dass alle finsteren religiösen und faschistischen Formationen in der Türkei auch hier Fuß fassen konnten. Die ersten Zellen der religiös extremistischen Partei von Erbakan, Milli Selamet Partisi (Nationale Heilspartei) wurden sogar erst in der Bundesrepublik gegründet, in mehreren deutschen Städten organisiert. Sie wurde später auch mit deutscher Unterstützung in die Türkei als eine politische Partei exportiert.

Der Föderalstaat tat auch sein Bestes in derselben Richtung. Wie wären all die obenhin gestellten Moscheen in einem Land möglich geworden, meint ihr – in einem Land, wo jedes Unternehmen, jedes Ladenlokal, jede Baunutzung, jede Bauänderung, unter strengen Regeln stehen und streng kontrolliert werden. Es ist eine erfundene Stadtlegende, dass diese mit den Spenden der Gläubiger entstanden sind. Sie wurden am Anfang durch undurchschaubaren Quellen finanziert. Die Länder und Städte zögerten nicht einen Moment, um die offensichtlich unpädagogische Korankurse für Kinder und was-weiß-ich aus dem nichts erfundene „kulturelle Aktivitäten“ dieser Moscheen und Moscheevereine finanziell zu unterstützen. Es ist auch ein Rätsel, wie ihre kurz danach entdeckten Einnahmequellen, die stinkende, schmutzige Lebensmittelgeschäfte in ihren ersten Jahren weiter existieren durften, während alle Lebensmittelgeschäfte und Märkte landesweit unter strengste Kontrolle des Gesundheitsamts lagen? Dass diese in späteren Jahren aus den Etagenwohnungen ausgezogen und Moscheen mit Minarett bauen durften, verdanken sie den offiziellen Stellen, die nicht nur die notwendigen Genehmigungen erteilten, sondern auch sie finanziell unter den Arm griffen.

Niemand soll versuchen, mir all das mit der westlichen Demokratie und Freiheiten zu erklären. Der Föderalstaat beschäftigte den engsten Mitarbeiter des faschistischen Politikers Türkes als Berater des Verfassungsschutzes, während dieser die links gerichteten Organisationen und Personen unter strengste Beobachtung hielt, jährliche Berichte darüber veröffentlichte und sie dämonisierte. Die Ämter wählten die reaktionären, extrem religiösen Föderationen und Sekten als „Ansprechpartner der aus der Türkei stammenden Mitbürger: innen“. Sie erkannten sie offiziell an, saßen zusammen, machten Meinungsaustausch, fassten gemeinsame Entscheidungen. Sogar ihr Weg zum Europaparlament wurde so geebnet.

Es muss auch gesagt werden, dass auch die Gewerkschaften in jenen Jahren klammheimliche Verfolger derselben Politik waren. Die längst ein Staatsorgan gewordene Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ließ einen äußerst gelben Gewerkschafter aus der Türkei, einen eingeschworenen Antikommunisten als Berater über die „türkischen Gastarbeiter: innen“ in ihrer Spitze sitzen. Dieser hielt Wache und beaufsichtigte mit Adleraugen, damit Linke aus der Türkei in der Gewerkschaftsarbeit keinen Einfluss gewinnen. Er schrieb fast monatliche Warnungsrufe an allen Einzelgewerkschaften und untersagte jegliche Zusammenarbeit mit links gerichteten Organisationen der aus der Türkei stammenden Arbeiter: innen, obwohl sie damals andauernd die Integration innerhalb der Gewerkschaften und internationale Solidarität aller Arbeiter: innen propagierten. (Ab Mitte der 1960er Jahre bis Anfang der 1980er gab es viele sogenannte Gastarbeiter: innen, die aus Spanien, Portugal, ehemaligen Jugoslawien Italien, Griechenland und der Türkei kamen.)

Mein Platz ist begrenzt. Es gibt vieles zu erzählen aber diese müssen zunächst genügen, zu verstehen, woher und mit wessen Unterstützung diese Massen entstanden sind. Ergebnisse sind klar und deutlich, so und so viel für Erdogan, so und so viel für die AKP…

Was sollen wir jetzt sagen? Dürfen wir diese Wähler: innen mit Doppelmoral und Inkonsistenz beschimpfen, obwohl wir wissen, dass ihre überwiegende Mehrheit Arbeiter: innen und Werktätigen sind. Nein! Weder wir tun dies, noch lassen wir die Anderen das tun, deshalb, weil wir Kommunisten sind! Deshalb, weil wir die Gesellschaftsprozesse und politische Entwicklungen aus dem Gesichtspunkt der Arbeiterklasse in Betracht ziehen und sie nur so bewerten. Deshalb, weil wir unerschütterliche ethische Werte haben. Deshalb, weil wir unser Vertrauen an die Arbeiter: innen und Werktätigen als ein geschichtliches Faktum aufrechterhalten. Wir hören nie auf, unsere Hoffnung an sie zu setzen.

Es steht fest, was wir in solchen Fällen tun: in den Spiegel zu schauen! Und dies ist genau das, was die Kommunistische Partei der Türkei tat: Sie sagte, „Offensichtlich hätten wir, ohne etwas von unseren Werten, Prinzipien und Verhalten preis zu geben, mehr getan haben müssen, um die Stimmen für uns zu vermehren. Eben dies haben wir nicht geschafft.„ Sie versprach ihre Arbeit mit selber Geschwindigkeit fortzusetzen. Dieses Versprechen gilt auch für uns hier in Deutschland.

Cemil Fuat Hendek
15.05.2023

(*)
Ergebnisse der Parlamentswahlen am 14.05.2023:
AKP und ihre Verbündeten 49,46%, CHP uns ihre Verbündeten 35,02%
Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 14.05.2023:
Recep Tayyip Erdoğan 49,52 %, Kemal Kılıçdaroğlu 44,88 %

(Weil kein Kandidat über 50% der Stimmen bekam, wurden die Wahlen am 28. Mai wiederholt.)
Ergebnisse der zweiten Wahlrunde am 28.05.2023:
Recep Tayyip Erdoğan 52,18%, Kemal Kılıçdaroğlu 47,82

Yurt dışındaki ‚tuhaflık hali‘ ve ‚ikiyüzlüler‘

Cemil Fuat Hendek

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