In der kurdischen Frage ist der richtige Ansprechpartner das werktätige Volk (*)
Ein kleiner Teil der Bevölkerung in der Türkei verfügt über einen enormen Reichtum, während Millionen von Menschen mit Armut und Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben.
Eine glückliche Minderheit besteht aus den Bossen, den Großgrundbesitzern und den reichen Rentiers. Während Arbeiter, Werktätige und arme Bauern arbeiten, wird dieser Teil immer reicher und immer mehr Gewinne anhäufen.
Unter den Armen dieses ungerechten Ausbeutungssystems in der Türkei befinden sich Millionen kurdischer Bürger:innen. Kurden sind meist arm, genauso wie die Bürger:innen anderer Herkunft.
Es gibt auch Kurden in diesem Land, die Andere ausbeuten. Kurdische Fabrikanten, Großgrundbesitzer, Geldverleiher, Bauunternehmer sind ein Teil der glücklichen Minderheit in der Türkei.
Die Interessen der Kurden, die ausbeuten, und die Interessen der anderen Ausbeuter sind ein und dieselben. Sie wollen die Fortsetzung der ungerechten Ordnung, sie suchen nach neuen Profiten und ergreifen jede Gelegenheit, noch reicher zu werden.
Die Interessen der ausgebeuteten, armen und arbeitslosen Kurden sind dagegen ein und dieselben wie die der anderen Armen und Arbeitslosen: Diese Ordnung, die die Quelle und Ursache der Ungleichheiten ist, muss sich ändern.
Die kurdische Frage kann nur im Lichte dieser Tatsache prädestiniert und diskutiert werden und der Weg zur Lösung kann nur auf dieser Grundlage verstanden werden.
Das Hauptproblem in der Türkei ist die Existenz der Bosse auf der einen und der Arbeiter auf der anderen Seite; die Kapitalistenklasse auf der einen Seite, die Werktätigen auf der anderen; die Reichen auf der einen und die Armen auf der anderen Seite.
Dies ist auch das Hauptproblem auf der Welt. Im Zentrum aller Arten von Tyrannei, Ungerechtigkeit, Putschen, Kriegen, Korruption und Umweltzerstörung steht das Kapital, das nichts anderes im Sinn hat, als mehr Profit zu machen.
Die kurdische Frage muss aus einer Klassenperspektive analysiert werden. Die Behauptung, dass die ausbeutenden Kurden und die ausgebeuteten Kurden ein gemeinsames Interesse haben, ist eine große Lüge. Diejenigen, die ein gemeinsames Interesse haben, sind die Arbeiter, die Arbeitslosen und die Armen jeglicher Herkunft.
Die kurdische Frage ist eine Frage der Gleichheit.
Die kurdische Frage ist auch eine Frage der Freiheit. Ein Konzept, das die eigene Sprache, die eigene Identität, ja sogar die eigene Existenz der Kurden ignoriert, oder zwingt sie, unter einer anderen Identität zu verschwinden, aufzulösen und sich zu unterwerfen, hat in keiner Weise Legitimität.
Die These, dass eine Nation, ein Volk einem anderen überlegen sei und bestimmte Privilegien verdiene, ist eine Lüge, die am Leben erhalten wird, um den Vorhang über die Ungleichheiten in der Welt zu ziehen und die Armen dazu zu bringen, sich gegenseitig zu hassen und sogar zu erwürgen.
Der Nationalismus, der in den vergangenen Epochen der Geschichte der Menschheit eine fortschrittliche und befreiende Rolle gespielt hatte, ist seit langem eine Waffe in den Händen aller Ausbeuter ohne Ausnahme.
Weder der kurdische oder der türkische Nationalismus kann dem anderen vorgezogen werden. Inzwischen gibt es auf der Welt keine einzige Region mehr, in der eine Nation als Ganzes ohne die Unterscheidung der Ausbeuter von den Ausgebeuteten befreit werden kann. Das gilt für Katalonien, Palästina, Korsika, Irland oder die Türkei.
Nationalismus führt zu noch mehr Nationalismus. Der griechische Nationalismus und der türkische Nationalismus zum Beispiel nähren sich gegenseitig. Eine ähnliche Realität gilt auch für den türkischen und den kurdischen Nationalismus.
Auch wenn sie unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedlicher Herkunft sind so sind die Interessen aller Unterdrückten doch die gleichen. Wenn sich zum Beispiel ein armer Palästinenser und ein jüdischer Arbeiter, der in einer Fabrik in Israel arbeitet, ihre Kräfte vereinen, wird das Boot des Imperialismus, des Zionismus und der heuchlerischen palästinensischen Machthaber, die vom „Palästinenserproblem“ profitieren, anfangen leck zu werden.
Die kurdische Frage kann nicht in einer Ordnung gelöst werden, in der die ausbeutenden Kurden auf der gleichen Seite mit anderen Ausbeutern stehen oder Verhandlungen knüpfen, um ihren Anteil zu erhöhen.
Die Machthaber in der Türkei brauchen die Existenz der Probleme, die die Bevölkerung spalten, damit die Werktätigen nicht gemeinsam kämpfen. Die Feindschaft der Unterdrückten gegeneinander hat zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung leider bisher immer funktioniert. Die Diskriminierung, die sich über die Sprachen, Identitäten und Existenz der Kurden ausbreitet wurde spaltet nicht nur die Arbeiter:innen und Werktätigen, sondern sorgt auch dafür, dass die unterdrückten Kurden eine billigere Arbeitskraft bleiben.
Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich nun bei den Arbeitsmigrant:innen. Die Feindseligkeit gegenüber Einwanderern kommt in erster Linie den Arbeitgebern zugute. Die eingewanderten Arbeiter:innen haben Angst, ihre Rechte einzufordern, und werden beinahe versklavt.
Auch die Tatsache, dass die kurdische Frage in Identitätsdebatten verpackt wurde, kam den Bossen am meisten zugute, und darüber hinaus wurde die Rahmung der kurdischen Frage in diesem Kontext als eine große Chance für die Ausbeuter kurdischer Herkunft benutzt.
Die kurdischen Bosse haben es geschafft, sich an der „kurdischen Frage“ zu bereichern. Für Millionen von Kurden bedeutet das Leben heute gar nichts anderes als Armut und Arbeitslosigkeit.
So kann es nicht weitergehen.
Keine Freiheit ohne Brot!
Ansprechpartner in der kurdischen Frage sind alle in der Türkei lebenden Werktätigen, die Öffentlichkeit. Es gibt kein Problem, das unsere Werktätigen aller Schichten nicht mit einem gemeinsamen Willen und einem gemeinsamen Kampf lösen können.
Die Behauptung, dass die kurdische Frage gelöst werden kann, indem man sich mit den Besitzern einer ausbeuterischen Ordnung an einen Tisch setzt, hat keinen Bestand. Das kurdische Volk hat keinen Nutzen von denjenigen, die der Arbeit, der Wissenschaft, der Kunst, den Frauen, der Republik und der Umwelt feindlich gegenüberstehen.
Die Grenze, die gezogen werden muss, verläuft nicht zwischen Türken und Kurden, sondern zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.
Auf dieser Grundlage können sich die Völker vereinen. Der gemeinsame Feind sind der Imperialismus, die internationalen Monopole, die „einheimischen“ Monopole und die Bosse.
Die Mentalität, die das kurdische Volk ignoriert, es dazu zwingt, dass es seine eigene Existenz leugnet, und es unterdrückt, trägt eine große Verantwortung dafür, dass einige Kurden in diesem Land ihre Hoffnung auf die internationalen Großmächte gesetzt haben. Es ist auch eine Schande für uns alle, dass wir nicht in der Lage waren, uns gegen diese Mentalität und diese ungerechte Ordnung als Ganzes stark zu machen.
Der Weg, diese Schande zu korrigieren, besteht darin, uns gemeinsam für unsere gemeinsamen Interessen gegen die Ausbeuter zu widersetzen.
Wir sitzen nicht im selben Boot. (**)
Der Imperialismus steht auf der Gegenseite. Die Kapitalklasse steht auf der Gegenseite. Die Scheiche und Reaktionäre aller Art stehen auf der Gegenseite.
Die Türkei wird Brüderlichkeit, Einheit, Gleichheit und Freiheit gewährleisten, indem sie die gegnerische Seite besiegt.
In der sozialistischen Türkei wird es keine kurdische Frage geben. Kurden und Werktätige unterschiedlichster Herkunft werden mit ihren schöpferischen Energien und glücklich gemeinsam eine Gesellschaftsordnung errichten, in der niemand niemanden ausbeutet.
Kommunistische Partei der Türkei
Zentralkomitee
9. Oktober 2021
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(*) Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, sagte vor kurzem, dass der Ansprechpartner in der Lösung der kurdischen Frage das Parlament sei. Diese Aussage löste einen Diskurs zwischen allen Oppositionsparteien aber auch eine kurze interne Diskussion in der HDP aus, da ein Co-Vorsitzender deutete darauf hin, dass der Ansprechpartner hauptsächlich Abdullah Öcalan sei.
(**) „Wir sitzen nicht im selben Boot“: Präsident Erdogan behauptete 2018 in einer Rede vor den Wahlen, dass die ganze Nation zu demselben schlimmen Ende gezwungen werden würde, „wenn das Boot leck bekommt“. Die TKP machte dagegen diesen Spruch zu ihrem Motto und propagierte überall, dass die Bosse und Werktätigen in zwei unterschiedlichen Booten sitzen