„Weder Marx war ein Ökonometrie-Lehrer,
noch Lenin ein Putschist Feldwebel!“
Anlässlich des 102. Jubiläums der Oktoberrevolution wollten wir ein Interview mit Kemal Okuyan, das von „soL“, dem Internetportal der TKP, 2018 veröffentlicht wurde, den deutschen Marxisten nicht entgehen lassen.
Am 7. November wird der 101. Jahrestag der Oktoberrevolution gefeiert. Gibt es noch etwas zu feiern?
Die Sowjetunion wurde zerstört, sodass das Land, das auf der Oktoberrevolution aufgebaut wurde, derzeit nicht existiert. In dieser Hinsicht gibt es nichts zu feiern, aber die Oktoberrevolution ist ein so großes historisches Ereignis, dass ihre Spuren nicht vom Erdboden gelöscht werden können und weiterhin regt sie den Kampf der Unterdrückten auf der ganzen Welt an. In Russland singen Rockbands „New Octobers are on the way“, auch dort kann die gegenwärtige kapitalistische Ordnung sich vor der sozialistischen Oktoberrevolution, von 1917 nicht retten kann. Es gibt viel zu feiern, aber diese Feiern müssen mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit verbunden sein. Heute ist die Idee der Revolution, die Idee des Sozialismus, das Ziel des Kommunismus sicherlich aktuell, und die Oktoberrevolution ist Teil dieser Aktualität.
Die Universalität der Oktoberrevolution wird infrage gestellt und als extrem russisch bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
Sie sollen einen Blick zum Einflussbereich der Oktoberrevolution werfen. Die neuen Staaten, die heute nach der Sowjetunion entstanden, waren die Republiken der UdSSR. Ja, zur Zeit der Revolution gehörte diese riesige Geografie dem Machtbereich des russischen Reiches, aber die Revolution schaffte es, sie zu befreien und zusammenzuhalten. Außerhalb der Sowjetunion fand die Revolution in der ganzen Welt, vor allem in Europa Resonanz. Hunderte Millionen Menschen bemühten sich den Weg des Oktobers zu beschreiten und einige haben es geschafft. In der Oktoberrevolution gibt es natürlich eine russische Seite. Ihr Zentrum war Petrograd, sie beinhaltet dazu angehörigen einzigartigen Farben. Aber auf der anderen Seite ist die Oktoberrevolution der Sieg der Arbeiter gegenüber den Patronen -im wahrsten Sinne des Wortes- die Ausstoßung der Patronen. Heute wird dasselbe auf der ganzen Welt benötigt. Und die Oktoberrevolution zeigt in vielerlei Hinsicht, den einzigen Weg, um den Chefs loszuwerden. Wie kann sie nicht universell sein?
Lenin, der Führer der Revolution, starb kurze Zeit später im Jahr 1924. Viele sagen, dass mit dem Tod Lenins der Zusammenbruch der Sowjetunion unvermeidlich wurde.
Auf keinen Fall. Lenin war ein großer Anführer, aber keiner der großen Schritte, die die Sowjetunion zur Sowjetunion machten, fand während seiner Regierungszeit statt. Er starb 1924, aber seit 1922 wissen wir, dass Lenin sich aus dem politischen Kampf zurückgezogen hatte und seine Krankheit ihn von den Problemen des Landes fernhielt. 1922 war die Sowjetunion ein armes Land, das mit nicht Industriellen, sabotierten Landwirtschaft gegen Hunger zu kämpfen hatte. Dennoch blickte eine organisierte Arbeiterklasse, eine revolutionäre Partei mit Hoffnung in die Zukunft. Die großen Umzüge fanden immer später statt. Es gibt keine Beziehung zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Lenins Tod. Dazwischen liegen 67 Jahre!
Warum also brach die Sowjetunion zusammen? Darüber haben Sie auch ein Buch geschrieben.
Es gibt Tausende von Büchern zu diesem Thema und eine kurze Antwort ist manchmal sehr gefährlich. Unter Berücksichtigung dieser Risiken kann ich Folgendes sagen: Die Sowjetunion brach zusammen infolge der schrittweisen Abkehr der Partei, die für die Führung des Fortschritts des Landes zum Kommunismus verantwortlich war, von der Revolution. Warum entfernte sie sich von der Revolution? Denn die Müdigkeit im Land nach den harten Kämpfen beeinträchtigte auch die Partei. Es wurden Fehler gemacht, um die Flucht vor dem Kampf auf ideologischem Gebiet zu rechtfertigen. Die Feindseligkeit des Imperialismus wurde unterschätzt und die Bedeutung der Gewährleistung der absoluten Souveränität des öffentlichen Eigentums in der Wirtschaft wurde nicht verstanden. Der revolutionäre Wille, der das Land bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgreich aus schwierigen Wendungen befreite, wurde durch den Status quo ersetzt. Wenn Sie stehen bleiben, fallen Sie, oder sie werden umgeworfen.
Die Behauptung, dass die Oktoberrevolution von dem Marxismus abgewichen wäre, kommt heutzutage öfter zur Artikulation. „Die Rückkehr nach Marx“ ist für viele zu einem Schlagwort geworden. Sollen wir zum Marx zurückkehren?
Man kehrt nicht zurück zum Marx, man wird Marxist. Marx ist ein Revolutionär und diejenigen, die glauben, dass sie durch seine Hilfe die Legitimität der Oktoberrevolution oder Lenins abschaffen können, werde sich täuschen. Systemkonforme Projekte, die Verbesserung des Kapitalismus auf die eine oder andere Weise, die Absurdität des dritten Weges oder die Suche nach einer freien Gesellschaft, die frei von Revolution ist … Für all dies kann man bei Marx keine Nahrung finden. Diese sind nichts anders, als einige wachsame Kapitalisten, die herantreten und sagen: „Marx hatte Recht“. Sie denken, Marx sei ein Ökonometrie-Lehrer in Harvard und Lenin ein Putschist Feldwebel!
Sie sagen, die Revolution ist aktuell. Sie müssen sicherlich öfters mit der Frage konfrontiert, ob Sie wirklich daran glauben.
Ja, wir stoßen sehr oft auf diese Frage. Und wir beantworten diese Frage mit der Frage: Glauben Sie, dass diese Ordnung in der Welt noch lange andauern kann und wird? Schauen Sie, wir sprechen über ein System, in dem selbst diejenigen, die im Kapitalismus nutznießen, ihn nicht offen verteidigen und sich beschweren. Die Oktoberrevolution hat gezeigt, dass dieses System zerstört werden kann und wie es zerstört werden kann. Währen dieses Interview höre ich gleichzeitig die Tagesnachrichten am Radio. Schauen Sie sich die Probleme der Menschheit an, die Großes geleistet, Werke geschaffen und Zivilisationen gegründet hatte. Krise, Arbeitslosigkeit, Korruption, Morde, Belästigung … Wie kann die Revolution nicht aktuell sein?
Vor einer Woche wurde am 29. Oktober der Tag der Republik gefeiert. Die Republik und die Sowjetrevolution sind das Produkt des gleichen Zeitalters. Wie definieren Sie die Beziehung zwischen den beiden. Ging es ausschließlich um gegenseitige Interessen? War diese Beziehung also das Produkt pragmatischer Berechnungen?
Es kann nicht gesagt werden, dass es keine pragmatischen Berechnungen gäbe. Natürlich näherten sich die Führung der Sowjetunion und die Nationalbewegung in Anatolien, indem sie Berechnungen und Kalkulationen. Auf jeden Fall war es den beiden Seiten unmöglich, zu einer Beziehung zu springen, ohne Feinheiten in Betracht zu ziehen. Auch die Klassengrundlagen und Ziele waren unterschiedlich. Aber diese Problematik kann nicht so vereinfacht werden. Es war nicht nur Handel und Wandel. Die waren an der gleichen Front, das war die Front der Revolution. Zweitens erregte die Oktoberrevolution aus verschiedenen Gründen das anatolische Volk auf sozialer Ebene und band es an sich. Es gab großes Mitgefühl für die Bolschewiki und dieses Mitgefühl ist nicht das Ergebnis einer „offiziellen Politik“. Denn auch in der Zeit, in der die Türkei anfing, sich von der Freundschaft mit der Sowjetunion abzurücken, gab es Auswirkungen der Sowjetunion an vielen Punkten auf dem Fundament der Republik. Die Sowjets haben tiefe Spuren in der Wirtschaft, Kultur, Städtebau. Wenn Sie sich diese Spuren genau ansehen, werden Sie einen Geist bemerken, der über die Interessenbeziehungen hinausgeht. In den von den Sowjets gegründeten Fabriken gibt es Schönheiten, von denen die Arbeiterklasse der Türkei heute sich nicht vorstellen können; Kinos, Kindergärten, Konzertsäle, Grünflächen…
Eine letzte Frage: Wie weit repräsentiert der Staat die Oktoberrevolution im heutigen Russland?
In keiner Weise. Die heutige Macht in Russland nutzt sie aus und verzerrt sie, nur weil sie die Auswirkungen des Oktobers, der sowjetischen Periode nicht entgehen kann. Das eine hat mit dem anderen gar nichts gemein. Die Sowjetunion war auch in der Zeit, in der sie schwerst krank war, ein egalitäres Land. Die Russische Föderation klettert dagegen an die Spitze in der sozialen Ungerechtigkeit. Die Arbeiterklasse ist heute die unterdrückte Klasse in Russland.